BFH VIII R 3/23 zur widerlegbaren Einkünfteerzielungsabsicht bei unentgeltlicher Bürgschaft
Kurz auf den Punkt: Der BFH erleichtert die steuerliche Anerkennung von Verlusten aus Bürgschaftsregressforderungen – auch bei unentgeltlicher Bürgschaft unter „fremden Dritten“. Entscheidend ist, ob zum Zeitpunkt der Bürgschaftsübernahme ein wirtschaftlicher Hintergrund erkennbar war. Fehlt ein solcher, ist die (ansonsten vermutete) Einkünfteerzielungsabsicht widerlegt. Für die Beratungspraxis ist das ein wichtiges Signal: Wer als Bürge zahlen musste und keinen Regress erhält, kann den Ausfall als negative Einkünfte aus Kapitalvermögen geltend machen – unter den bekannten Restriktionen des § 20 EStG.
1) Ausgangslage: Forderungsausfälle im System des § 20 EStG
Seit Einführung der Abgeltungsteuer erfasst § 20 EStG nicht nur laufende Erträge, sondern auch Wertzuwächse und -verluste aus Kapitalforderungen. Der BFH hat wiederholt klargestellt: Der endgültige Ausfall einer privaten Kapitalforderung führt grundsätzlich zu einem steuerlich anzuerkennenden Verlust nach § 20 Abs. 2 S. 1 Nr. 7, S. 2 i.V.m. Abs. 4 EStG, obwohl es an einem klassischen Veräußerungsvorgang fehlt. Der Gedanke: Wenn die Rückzahlung einer Forderung wie eine Veräußerung wirkt, dann muss auch die endgültig ausbleibende Rückzahlung als Verlust erfasst werden. Diese Linie zog der BFH u.a. in VIII R 28/18 (Insolvenzfall) und IX R 2/22.
Bürgschaftsregressforderungen ordnete der BFH 2023 ausdrücklich den „sonstigen Kapitalforderungen“ zu. Folge: Deren Ausfall kann – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – einen steuerbaren Verlust begründen. Für die Praxis bedeutet das: Auch der Bürge, der infolge Inanspruchnahme nicht erfolgreich regressieren kann, steht grundsätzlich im Anwendungsbereich des § 20 EStG.
2) Der neue Baustein: VIII R 3/23 (01.07.2025)
Mit VIII R 3/23 präzisiert der BFH nun die Einkünfteerzielungsabsicht bei unentgeltlichen Bürgschaften „unter fremden Dritten“:
- Vermutung: Auch bei unentgeltlicher Bürgschaft wird die Einkünfteerzielungsabsicht widerlegbar vermutet.
- Widerlegung: Die Vermutung ist erst widerlegt, wenn die Bürgschaft ohne jeden wirtschaftlichen Hintergrund hingegeben wurde.
- Zeitpunktbetrachtung: Maßgeblich für die Prüfung ist der Zeitpunkt der Bürgschaftsübernahme, nicht erst der spätere Forderungsübergang nach § 774 BGB.
Das Verfahren wurde an das FG zurückverwiesen, weil die Vorinstanz die Kriterien falsch anlegte (u.a. falscher Beurteilungszeitpunkt und zu strenge Maßstäbe an den „wirtschaftlichen Hintergrund“). Für Berater ist damit klar: Die Dokumentation der wirtschaftlichen Gründe bei Übernahme der Bürgschaft ist der Dreh- und Angelpunkt – selbst wenn keine Gegenleistung (Zinsen, Sicherheiten) vereinbart war.
3) Was heißt „wirtschaftlicher Hintergrund“?
Der BFH verlangt keinen Totalgewinnplan in einem engen, buchhalterischen Sinn. Es genügt, dass die Bürgschaft objektiv nachvollziehbar wirtschaftlich motiviert war – etwa:
- Geschäftsbeziehungen oder prospektive Synergie-/Vorteilserwartungen (z. B. Zulieferer-/Kundenbindung, Stabilisierung eines Partners).
- Vertragsumfeld (etwa Parallelvereinbarungen: Darlehen, Zinsabreden, Sicherungsmechanismen, Gewinn-/Verlustbeteiligungen).
- Marktübliche Gründe für die Sicherheitengestellung.
Dieser wirtschaftliche Hintergrund muss im Zeitpunkt der Bürgschaftshingabe bestehen und belegbar sein. Reine Altruismus- oder Gefälligkeitsmotive ohne wirtschaftliche Komponente genügen nicht; dann ist die Vermutung widerlegt.
4) Realisationszeitpunkt des Verlusts: „Wann ist es endgültig?“
Die Realisationsfrage ist eigenständig zu prüfen. Nach der BFH-Rechtsprechung kann der Verlust bereits entstehen, wenn der endgültige Ausfall feststeht—z. B. bei Anzeige der Masseunzulänglichkeit durch den Insolvenzverwalter; dann ist mit einer nennenswerten Befriedigung nicht mehr zu rechnen. Hierzu hat der BFH in VIII R 28/18 Leitplanken gesetzt, die in der Praxis häufig herangezogen werden.
Praxis-Tipp: Prüfen Sie systematisch die Insolvenzakte (Anzeige nach § 208 InsO, Quotenaussichten, Rang der Forderung). Der Zeitpunkt ist nicht nur steuerlich wichtig (Zurechnung im richtigen Veranlagungszeitraum), sondern beeinflusst auch Festsetzungsfristen.
5) Übergangs- und Anwendungsfragen: § 52 Abs. 28 EStG
Ob die erweiterten Tatbestände des § 20 Abs. 2 S. 1 Nr. 7 EStG überhaupt greifen, hängt an den Übergangsvorschriften. Der BFH hat in VIII R 25/23 die zeitliche und sachliche Anwendungsgrenze betont: maßgeblich sind u.a. Begründungs-/Erwerbszeitpunkt der Forderung (nach dem 31.12.2008) und spezielle Ausnahmen in § 52 Abs. 28 S. 16 EStG. Diese Schranken sind vorab zu prüfen, um keine „Scheinverluste“ geltend zu machen.
6) Einordnung der Entscheidung für die Beratungspraxis
Warum ist VIII R 3/23 wichtig?
- Klarstellung zugunsten der Steuerpflichtigen:
Die Vermutung der Einkünfteerzielungsabsicht gilt auch bei unentgeltlicher Bürgschaft – ein häufiges Praxisrisiko fällt damit weg. Mandanten, die ohne Gegenleistung bürgten (z. B. zur Absicherung einer für sie wirtschaftlich sinnvollen Beziehung), sind nicht per se ausgeschlossen. - Dokumentationsfokus beim „Wenn“ – nicht nur beim „Wie viel“:
Wer heute bürgt, sollte zeitnah dokumentieren, warum die Bürgschaft wirtschaftlich sinnvoll war (Erwartungshorizont, Strategie, Alternativen, Sicherheiten). Diese Unterlagen sind später Gold wert, wenn es um die Anerkennung der Einkünfteerzielungsabsicht geht. - Brücke zu früheren BFH-Entscheidungen:
Die Entscheidung fügt sich in die Linie des BFH, Forderungsausfälle grundsätzlich als Kapitalvermögensverluste anzuerkennen (u. a. IX R 2/22; VIII R 28/18). Gleichzeitig dient sie als Scharnier zwischen Gesellschafterbürgen und Bürgen unter fremden Dritten: Maßgeblich ist nicht die Etikette „unentgeltlich“, sondern der wirtschaftliche Kontext. - Verwaltungssicht im Blick behalten:
Das BMF hat zentrale Grundsätze dieser BFH-Rechtsprechung in einem Schreiben vom 14.05.2025 aufgegriffen; die Praxis sollte die dortigen Tz. u.a. zum Zeitpunkt des Ausfalls und zur Vermutung beachten (auch wenn einzelne Details diskutiert werden).
7) Checkliste: Welche Unterlagen sollten wir für Sie prüfen?
- Bürgschaftsvertrag (Höchstbetrag, Anlass, Sicherheiten, Bezug zu Grundverhältnis).
- Zeitnahe Notizen/Kommunikation zur wirtschaftlichen Motivation (E-Mails, Beschlüsse, Strategie-Memos).
- Parallelvereinbarungen (z. B. Darlehen, Zins-/Gewinnbeteiligung, Freistellungsabreden, Sicherungsabtretungen).
- Zahlungsnachweise (Inanspruchnahme, Erfüllung).
- Insolvenzunterlagen (Eröffnungsbeschluss, Masseunzulänglichkeit, Tabelle, Quotenprognose).
- Zeitpunkte im Längsschnitt (Übernahme Bürgschaft – Inanspruchnahme – Ausfallfeststellung) zur periodengerechten Zuordnung.
- Verlustverrechnung im „Topf § 20“ (Anlage KAP, etwaige Altverluste, Terminierung).
8) Grenzen: Verlustverrechnung und Werbungskosten
Auch anerkannte Verluste unterliegen den Beschränkungen des § 20 Abs. 6 EStG (Topfbindung, Verlustvortrag/-rücktrag nur innerhalb der Kapitaleinkünfte; Sonderregelungen z. B. zu Termingeschäften). Außerdem gilt das Werbungskostenabzugsverbot des § 20 Abs. 9 EStG, sodass Nebenkosten nicht frei abziehbar sind. Das schmälert zwar die Wirkung, hebt aber die Grundsatzchance nicht auf, substanzielle Ausfälle steuerlich zu nutzen.
9) Fallstricke vermeiden: Drei typische Fehler
- Falscher Beurteilungszeitpunkt: Die Einkünfteerzielungsabsicht wird bei Übernahme der Bürgschaft geprüft, nicht erst bei Inanspruchnahme. Wer erst dann nach Gründen sucht, kommt zu spät.
- „Unentgeltlich = privat“ (Kurzschluss): Unentgeltlichkeit allein schadet nicht. Ohne jeden wirtschaftlichen Hintergrund hingegen schon.
- Übergangsrecht übersehen: Vor Prüfung der Höhe stets klären, ob § 20 Abs. 2 S. 1 Nr. 7 EStG zeitlich/sachlich anwendbar ist (Stichwort § 52 Abs. 28 EStG).
10) Unser Angebot: Strukturierte Erstprüfung mit Fahrplan
- Quick-Scan der Unterlagen und des wirtschaftlichen Kontexts bei Bürgschaftsübernahme.
- Realisationsanalyse (Insolvenzstand, Masseunzulänglichkeit, Ausfallerkenntnis).
- Steuerliche Einordnung inkl. Zeitpunkt und Verlust-Topf (§ 20 Abs. 6 EStG).
- Dokumentationspaket für die Veranlagung / Einspruch.
- Proaktive Gestaltung für zukünftige Sicherheitsleistungen (bessere Belege, vertragliche Klarheit).
Gerade weil VIII R 3/23 die Tür auch für unentgeltliche Bürgschaften offenhält, hängt der Erfolg von der sauberen Argumentation und Dokumentation ab. Wir unterstützen Sie dabei – kompakt, fokussiert und mit Blick auf Streitvermeidung.
11) Fazit
VIII R 3/23 ist ein praxisfreundlicher Baustein in der BFH-Rechtsprechung zu Forderungsausfällen: Die Vermutung der Einkünfteerzielungsabsicht greift auch bei unentgeltlichen Bürgschaften; widerlegt ist sie erst, wenn jeglicher wirtschaftlicher Hintergrund fehlt. Damit steigen die Chancen, Ausfälle aus Bürgschaftsregressforderungen als negative Kapitaleinkünfte geltend zu machen – vorbehaltlich Übergangsrecht, Realisationszeitpunkt und Verlustverrechnungsregeln. Wer die zeitpunktgenaue Prüfung und Dokumentation ernst nimmt, verbessert seine Position in Veranlagung und Rechtsbehelf spürbar.
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